«Ihr macht es euch recht kompliziert, nicht?»
Meine Mutter schaute mich über ihren Cappuccino hinweg an, als sie das sagte. Wir sassen in einem kleinen Café in Mailand und ich hatte gerade über ein Cornetto con Crema gebeugt versucht zu erklären, warum moderne Beziehungen manchmal Labels brauchen – und manchmal eben auch nicht. Sie meinte es nicht böse. Eher erstaunt. Mein Vater sass neben ihr und nickte zustimmend. «Man könnte sich ja auch einfach mal entscheiden», fügte er hinzu.

Negroni und Generationsgespräche. Funktioniert.
Letztes Wochenende war ich mit meinen Eltern in Mailand. Ab und zu verbringe ich so einen Städtetrip mit ihnen – ein, zwei Tage spazieren, essen, plaudern. Es ist eine sehr schöne Art, miteinander Zeit zu verbringen.
Ich spreche mit meinen Eltern sehr offen über fast alles: Karriere, Finanzen, Beziehungen. Vor allem bei neuen Lebens- und Liebesformen gehen unsere Vorstellungen manchmal auseinander. Sie verurteilen nichts davon, aber wenn ich über Dating spreche, über offene Beziehungen oder typische Millennial-Ängste wie die Furcht davor, eine Beziehung zu «labeln», schütteln sie eher den Kopf.
Über diese Frage, die mir meine Mutter gestellt hat, habe ich in den letzten Tagen nachgedacht. Denn was mich dabei wirklich beschäftigt: Ist es einfacher für uns, kompliziert zu leben? Oder war es früher einfach so viel komplizierter, anders zu leben?
Meine Generation hat eine Freiheit, die vorherige so nicht hatten: Wir können ziemlich offen entscheiden, wie wir leben möchten. Kinderlos Karriere machen und gleichzeitig in einer polyamoren Beziehung leben? Möglich. Fünf Kinder haben und als Tradwife Mozzarella per Livestream auf TikTok von Hand herstellen? Auch. Geschieden mit der Partnerin erfolgreich Co-Parenting zelebrieren? Kein Problem mehr.
Für fast jeden Lebensentwurf gibt es heute Vorbilder, Menschen, die von ihren Erfahrungen erzählen und einem das Gefühl geben: Du bist nicht allein. Das ist ein massiver Unterschied zu dem, wie wir noch vor 25 oder 35 Jahren über Leben und Liebe gesprochen haben.
Ich bin beispielsweise mit der Idee aufgewachsen, dass eine Scheidung bedeutet, als Paar gescheitert zu sein. In Filmen war vom bösen «Stiefmonster» die Rede (womit natürlich immer nur die Stiefmütter gemeint waren). Ich erinnere mich, wie der junge Arzt George in einer der ersten Folgen von «Grey's Anatomy» sagte, er «glaube nicht an Scheidung». Als sei das ein Konzept, das man einfach ablehnen könne. Über Jahre wiederholte ich diesen Satz mit der Überzeugung, dass das eine total romantische Lebenseinstellung sei.
Heute weiss ich: Eine gescheiterte Beziehung bedeutet nicht, dass man als Paar versagt hat. Und ich habe ausserdem gelernt: Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse und eine unterschiedliche Art, auf diese Bedürfnisse einzugehen. Ich habe Freundinnen, die verheiratet sind, andere, die seit Jahren glücklich in offenen Beziehungen leben.
Aber: Macht uns diese Freiheit auch glücklicher?
Ich würde sagen: Manchmal ja, manchmal aber eben auch nicht. Denn diese Wahlfreiheit – so wunderbar sie ist – bringt auch einen neuen Druck mit sich: Den Druck, sich ständig zu hinterfragen. Die «richtige» Entscheidung zu treffen. Bloss nicht in einem Lebensmodell zu landen, das am Ende doch nicht passt. Und je mehr Optionen wir haben, desto schwerer wird diese Entscheidung.
Früher war vieles klarer definiert. Heiraten, Kinder, Haus – vielleicht noch ein Hund? – fertig. Das hatte seine Nachteile, keine Frage. Nicht zuletzt, weil damit auch oft extrem patriarchale Wertvorstellungen einhergingen, die man zu erfüllen hatte.
Kann ich mir selber vorstellen, in einer offenen, polyamoren Beziehung zu leben? Wahrscheinlich nicht. Glaube ich, dass man sich mit gewissen Beziehungsformen bewusst so viele Optionen wie nur möglich offenhält? Absolut. Macht das glücklicher? Nicht unbedingt. Kann ich mir auf der anderen Seite vorstellen, nächstes Jahr in ein Haus zu ziehen und drei Kinder zu kriegen? Auch nicht wirklich. Wenn ich ehrlich bin, löst der Gedanke daran, ein Haus zu kaufen, eher Fluchtgedanken in mir aus. Nicht, weil ich etwas gegen Häuser habe (ich hätte auch sehr konkrete Einrichtungsideen). Sondern weil sich «Haus» für mich anfühlt wie «für immer festlegen». Und genau das will ich gerade nicht.
Was ich weiss: In der Liebe ist für mich ein gewisses Commitment nicht nur wichtig, sondern eben auch verdammt romantisch. Die Tatsache, dass man Ja zueinander sagt, immer und immer wieder. Aber ich finde es eben auch fantastisch, dass wir gesellschaftlich nicht mehr so vorgeschrieben bekommen, wann und wie dieses Commitment aussehen muss.
Vielleicht ist das, was meine Eltern als «kompliziert» wahrnehmen, einfach nur: sichtbar. Früher haben die Menschen ihre Kompromisse, ihre Unzufriedenheit, ihre heimlichen Sehnsüchte eher versteckt. Heute reden wir darüber. Wir leben sie aus. Das ist manchmal messy, laut. Und ja, manchmal auch etwas zu viel.
💖 Das habe ich diese Woche geliebt
Der Friedensnobelpreis geht in diesem Jahr an die venezolanische Oppositionsführerin Maria Corina Machado – und nicht an Donald Trump. (!!!).
Creme Caramel kommt in Italien und in Frankreich als süsser, traumhafter, stichfester Pudding daher. Laut meiner Mama war das eine Spezialität meines Grossvaters, der Koch war, den ich aber leider nie kennenlernte. Mein Ziel bis Ende Jahr: Selbst so eine Creme hinbekommen wie mein Nonno.
An einem Sonntagmorgen wie heute Champagner im Bett trinken. Einfach so.
Hart umkämpfte UNO-Runden mit meinen beiden Neffen spielen.
😤 Das habe ich gehasst:
Der Berufungsprozess im Fall Pelicot hat mich diese Woche nicht losgelassen. Die Tatsache, dass einer der Täter tatsächlich darauf bestand, dass er nicht wusste, dass Gisèle Pelicot sediert war und sie sich erneut einem Prozess stellen musste, machte mich traurig und wütend. Er sei davon ausgegangen, sie stelle sich nur schlafend, so der Angeklagte. Pelicot selbst fand klare Worte im Gerichtssaal: «Zu welchem Zeitpunkt habe ich Ihnen meine Zustimmung gegeben? Niemals!» Der Mann wurde nun zu 9 Jahren Haft verurteilt – ein Jahr mehr als das Urteil in erster Instanz lautete.
Hund, Leine, Kaffeebecher in der Hand und weisse Sneaker - damn! Aber nichts, was ein wenig Seife nicht regeln könnte.
Die Tage werden kürzer. Draussen ist es früher dunkel. Winter is coming. Ooof.
Zurück zur Frage meiner Eltern: Machen wir uns das Leben also wirklich schwer?
Ich glaube, das Problem ist nicht die Komplexität unserer Leben. Das Problem ist viel eher, dass viele Menschen in meinem Alter glauben, man müsse jede Möglichkeit ausschöpfen, jede Tür offenhalten, jeden Lebensweg zumindest in Betracht ziehen.
Aber vielleicht – und das ist meine These – geht es gar nicht darum, das «richtige» Lebensmodell zu finden. Sondern darum, herauszufinden, was wir wirklich wollen. Und was wir nur wollen, weil es jetzt eben möglich oder verfügbar ist.
🔒 Hinter der Paywall: Drei Fragen, die mir geholfen haben, zwischen «Ich will das wirklich» und «Ich glaube, ich sollte das wollen» zu unterscheiden. Plus: Was das «Paradox of Choice» mit unserem Glück macht – und warum ich aufgehört habe, alle Türen offenzuhalten.
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