Ich war gestern Abend am Jazzfestival in Nizza (mehr dazu weiter unten, ich habe euch in meiner Tippliste eine kleine, passende Playlist zusammengestellt). Meine beiden Freunde hatten sich aufgemacht, um Rosé (Südfrankreich, obviously) und Socca (eine lokale Spezialität aus Olivenöl, Wasser und Kichererbsenmehl) zu besorgen. Ich hütete ihre beiden Plätze, was gar nicht so einfach war, weil Sitzgelegenheiten an so einem Festival natürlich heiss begehrt sind. Als sich dann ein grosser Kerl – ohne überhaupt erst zu fragen – auf einen der Stühle setzte und sich mit den Leuten auf der anderen Tischseite unterhielt, war ich recht überrascht. Ich sage recht, weil ich ja in Frankreich bin und mich die nonchalante Arroganz, mit der man als Franzose oder Französin durchs Leben gehen kann, mittlerweile nicht mehr so sehr erstaunt. (Man kann es ihnen aber nicht so übel nehmen, denke ich, während ich diese Zeilen schreibe und in ein lauwarmes Brioche au Chocolat beisse.)

Ich schaue den Typen an, er sieht ein wenig aus wie ein Cowboy. Er hat einen breiten Nacken, einen Bart, trägt ein T-Shirt, Jeans und Cowboy-Boots. Ich räuspere mich und erkläre ihm, dass der Platz besetzt ist. (Vielleicht nicht ganz mit der Sicherheit, die ich im Deutschen besitzen würde, denn die oben erwähnte nonchalante Arroganz führt eben auch dazu, dass man Mut braucht, um mit Einheimischen Französisch zu sprechen. Aber: Verdammt, ist dieses Brioche buttrig!) Er guckt verdutzt und sagt, dass er aufstehen werde, wenn meine Begleitung zurückkommt. Seine Freunde auf der anderen Tischseite schauen mich wiederum ganz erstaunt an, verwickeln ihn dann aber sofort in das nächste Gespräch.

Als meine Freunde zurückkehren, umarmen sich plötzlich alle am Tisch. Es wird munter geplaudert und dem Cowboy wird sogar ein Glas Wein eingeschenkt. Ich bin erstaunt. Ich hatte mich so auf den Siegesmoment gefreut, in dem er den Stuhl hätte zurückgeben müssen.

Was ich nicht weiss: Der Cowboy heisst Samuel Le Bihan und ist ein französischer Filmstar. Nicht auf Leonardo-Di-Caprio-Level – den hätte ich trotz Baseballmütze im Gesicht erkannt –, aber auf einem Star-Level, das dazu führt, dass Menschen um ihn herum halt überrascht sind, wenn man ihm einen Platz streitig machen will.

Hat Herr Le Bihan hier toxische Männlichkeit an den Tag gelegt? Nein. Es sind wohl eher (französische) Starallüren. Aber wo fängt toxische Männlichkeit überhaupt an? Und gibt es heute wirklich mehr toxische Männer? Damit befasse ich mich heute in der Frage der Woche. Mehr dazu weiter unten.

Ich muss allerdings noch kurz auf den Kuschel-Skandal bei dem Coldplay-Konzert eingehen. Andy Byron, der CEO der Softwarefirma Astronomer, und seine Personalchefin Kristin Cabot wurden bei einem Coldplay-Konzert in Boston über die Kiss-Cam beim Kuscheln gefilmt. Das Problem: Die beiden sind verheiratet. Aber nicht miteinander. Der Aufruhr war gross, das Video ging viral – und jetzt sind beide ihren Job los.

In diesem konkreten Fall konnte vor allem eines beobachtet werden: Wie innerhalb weniger Stunden das Leben mehrerer Menschen durch die sozialen Medien zerstört wurde. Zwei Artikel kann ich dazu sehr empfehlen: Dieses Lesestück aus der «Süddeutschen Zeitung» und diese Meinung meiner Kollegin Jacqueline Krause-Blouin in der «annabelle» (Jacqueline ist übrigens zu Gast in meiner neusten Podcast-Folge, um über ihr Leben in Trump-Amerika zu sprechen). Beide Artikel entlarven sehr gut, was mich an diesem Skandal so unglaublich störte: die moralische Überlegenheit, mit der im Internet über diese beiden Menschen geurteilt wurde.

In Frankreich war die Tonalität übrigens von Beginn an eine andere. Als die Zeitung «Le Monde» das Video auf Social Media teilte, war die Entrüstung in den Kommentaren gross. Nicht wegen der aufgeflogenen Affäre, sondern weil «Le Monde» überhaupt darüber berichtete. «Laissez les gens s’aimer» kommentierte ein User. «Lasst die Menschen sich lieben.

Nonchalant, ich sage es ja.

Frage der Woche

Hier an dieser Stelle behandle ich Fragen aus meinem Podcast, die mir die Community stellt. Ihr könnt mir Fragen via Voicemessage auf Instagram senden oder per Mail. Diese Woche hat eine Zuhörerin gefragt:

Gibt es heute wirklich mehr toxische Männlichkeit als früher?

Neulich hat mir eine Kollegin erzählt, dass sie in einer Sitzung ein journalistisches Projekt über einen Mann verteidigen musste, dem vorgeworfen wird, Frauen sexuell missbraucht zu haben. Ihre Vorgesetzten waren nämlich der Meinung, dass solche «MeToo-Geschichten» doch eigentlich vorbei seien. MeToo ist passé? Und was würde das für die toxische Männlichkeit heissen? Ist die auch so 2016? Wie Pokémon Go und Overknee-Stiefel?

Let’s see.

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